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GESTERN IN FLANDERN (3) Retro Ronde

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Vielleicht sind die flämischen Ardennen so etwas wie ein Traum- und Exilland für Radsportler aus Ländern, in denen die Radsportbegeisterung auf kleiner Flamme köchelt. Das Volk selbst gibt sich strikt kompetitiv – vom Amateur bis zum Profi. Wer will, kann es ihnen nachmachen. So tauchte der erste Teil der Reisenotizen über Oude Kwaremont, Paterberg und Koppenberg in die Kulturlandschaft ein. Der zweite Teil führte ins Zentrum des belgischen Radsports nach Oudenaarde, wo Sprinterveteran Freddy Maertens noch einmal die Geschichte einer späten Zwiesprache mit seinem Rivalen Eddy Merckx im O-Ton erzählte. Der letzte Teil widmet sich Après-Velo im Ballsaal, Radkultur im Kirchenschiff und zeigt Fotos der Originale am Versorgungsposten der RetroRonde.

Eine Retro-Runde kann man auch ohne Fahrrad schieben. Zum Beispiel am Vorabendball. „The Dipsy Doodles“ sind eine Animationsmaschine, gegen die niemand etwas vorbringen kann. Eintänzer Sep Vermeersch hat etwas vom jungen Belmondo. Er geht geradewegs auf Nichttänzer zu, fordert oder verführt, und stoppt gerade rechtzeitig vor der psychologischen Barriere derer, die sich nicht verführen lassen wollen. Leider entpuppen sich die koketten Damen, die in der Nähe stehen, allesamt als zu der Truppe gehörend. Dafür können sie es und treffen die Stimmung.

Über dem Peloton der Tänzer hantieren die Leute von Brooks England mit den Spinnenarmen einer Kamera. Später montieren sie Versatzstücke aus dem Fest, um sie hübsch eingerahmt im Netz für die RetroRonde 2014 zu zitieren, wie wir sie heute sehen können:

Retro, auf der Suche nach oder genauer: beim Zelebrieren der guten alten Zeit, als alles viel besser war und man noch Stil pflegte, kennt keine Zeit und erst recht keinen bestimmten Stil. Der eine feiert die Zwanziger, der andere projiziert das wahre Leben auf die siebziger Jahre. Das gilt auch für die Musik im Ballsaal. Auf Swing folgt Blues, auf Blues Rock´n´Roll und plötzlich bin ich Zuhause in Berlin, in irgendeinem Cabaret der Dreißiger, kurz bevor die Zeit besonders düster wurde: Bei mir bist du schön.

Nur einen Minizeitsprung zurück am Nachmittag desselben Tages, ins Onze-Lieve-Vrouwklooster. Ein Hospital, das im 13. Jahrhundert einmal als Zufluchtsort für Pilger und Reisende diente. Im Kreuzgang taucht die Zeit in Form einer Fahrraduhr wieder auf. Ein Mann baute sie mit zusammen seinen Kindern. Dort findet auch die Explosion knallbunter Devotionalien statt: Blaue, grüne, rote Trikots in Kisten, verspielt schnörkelige und leicht angerostete Luftpumpen, geradezu erotische Campagnolo-Teile, Fanzines aus legendären Tagen und natürlich stählerne Rennmaschinen.

Foto: wscher / www.fahrradjournal.de

In Berlin habe ich mich an die deprimierende Vorstellung gewöhnt, dass junge, solvente Bartträger längst alle Vintagerahmen vom Markt leergekauft und die filigranen Rennlenker gegen modische Fixiestumpen für ihre Stadtfahrten ausgetauscht haben. Aber hier sitzen keine schlanken Hipster auf Kirchenbänken, sondern dankenswerterweise und im Sinne der Vielfältigkeit auch ältere Menschen oder Familien und präsentieren die wieder hippen Fahrräder.

Foto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.de

Während draußen der Gendarm und der Geistliche in Soutane Theaterrollen sind, die sich mit belgischem Bier zuprosten, thront in der Kapelle auf dem Altar die RetroRonde selbst. Wer weiß, wo Gott mit seiner Familie hin ist, nachdem er von den Menschen verlassen wurde. Aber die Sehnsucht der Menschen nach etwas ist geblieben. Als (hoffentlich) ironische Zeitreisende schaffen sie Glücksmomente, indem sie unter den Bedingungen von heute einen imaginierten besseren Spirit von gestern verströmen, so lange, bis alles wahr wird. Die nachfolgenden Fotos zeigen den großen Tag an einer Versorgungsstation der Retro Ronde 2013.

Text und Fotos: wscher / Video: Brooks England

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Hinweis zur Transparenz: Die Reise erfolgte dank einer Einladung des staatlichen Verkehrsamtes von Flandern “Tourismus Flandern-Brüssel”

Zum 1. Teil der Serie GESTERN IN FLANDERN: Im Land der Radfahrer

Zum 2. Teil der Serie GESTERN IN FLANDERN: Die Lange Nacht von Eddy Merckx und Freddy Maertens

Foto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.deFoto: wscher / www.fahrradjournal.de


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